Alles eine Frage …

Das e-Mail-Interview als Form der Kunstvermittlung

Für den Künstler Mario Hergueta initiieren künstlerische Prozesse innere Vorgänge, die zu einem Erkenntniszuwachs führen und eröffnen einen neuen Blick auf die Dinge, auf sich selbst und auf die Welt. Sein Interview wird zu einem leserfreundlichen kunstvermittelnden Text für einen direkten Kontakt mit dem Künstler und seinem Werk.

Das Interview ist als direkte Form der Vermittlung von persönlichen Ansichten, Meinungen, Stellungnahmen ein vielfach genutztes journalistisches Kommunikationsmedium. So ist es naheliegend, das Interview für die Kommunikation von künstlerischen Standpunkten an ein an zeitgenössischer Kunst interessiertes Publikum zu nutzen. Im Internet auf geeigneten Plattformen und kunstspezifischen Webseiten veröffentlicht kann so die entsprechende Zielgruppe erreicht und auf dem Laufenden gehalten werden.

Ziel dieser virtuellen Gespräche ist es, die Vielfalt künstlerischer Positionen zu illustrieren und ein Porträt der Interviewten entstehen zu lassen, das den Lesern nicht nur die Gelegenheit eröffnet, intensive Einblicke in das künstlerische Schaffen zu gewinnen, sondern dies auch auf einem fachlich hohen Niveau und in neutraler Weise zu tun, so dass eigene Urteile möglich werden. Damit bewegt sich die Arbeit der Autoren derartiger Internetplattformen zwischen kunsthistorischer Annäherung an zeitgenössische Kunst und den Erfordernissen eines fundierten Kulturjournalismus, wie ihn etwa Norbert Bolz beschreibt: »Das wichtigste Qualitätskriterium ist Sachverstand, der sich nur herausbilden kann, wenn sich jemand über viele Jahre hinweg mit einer gewissen Ausschließlichkeit auf bestimmte Themen konzentriert hat, so wie man das von Wissenschaftlern kennt. Außerdem setzt es die Fähigkeit voraus, dies in eine Sprache zu übersetzen, die auch dem Laien verständlich ist.«

Hierfür bietet sich das Interview als besondere textliche Vermittlungsform an, die – durch gezielt gestaltete Fragen – thematisch vielfältige Informationen ebenso vermitteln wie – durch die Gestaltung in einer Frage-Antwort-Situation – die sprachliche Verständlichkeit inhaltlich oft sehr komplexer Kontexte ermöglicht. Der Leser begegnet den Künstlern und ihrem Werk (verhältnismäßig) direkt und findet sich in einer Situation wieder, in der er sich dem Schaffen über Fragen schrittweise annähern kann, ohne dass ein Autor als »Interpretator« zwischengeschaltet ist.

Seit über fünf Jahren gibt es mit deconarch.com eine von Simone Kraft initiierte Online-Plattform, die einen besonderen Fokus verfolgt: Die in Blog-Form gestaltete Publikation widmet sich der Schnittstelle von Architektur und Kunst als einer besonderen Nische des kreativen Schaffens2. Ein grundlegender Pfeiler der Arbeit von deconarch.com ist die Präsentation von zeitgenössischen internationalen Künstlern und Künstlerinnen in Form von Interviews auf Deutsch und Englisch. Präsentiert werden Positionen, die sich mit Fragen zu Architektur und Gebautem, zu Raum, (Stadt-)Raumgestaltung und Urbanität auseinandersetzen. Damit wurde eine besondere Form der Kunstvermittlung etabliert, die zwei artverwandte Themen zusammenbringt und ein großes Blickfeld eröffnet.

Mit dieser Arbeit hat sich deconarch.com mittlerweile international etabliert. Leserschaft, Kommentare und Kooperationsanfragen erfolgen aus aller Welt, das Interesse an der besonderen Blickrichtung auf die Verbindung von Kunst und Architektur wird sehr positiv aufgenommen.

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Die Interviews werden in Form eines »eMail-Ping-Pongs« durchgeführt, also in einer Kommunikation per eMail. Die zeitliche und räumliche Distanz ermöglicht beiden Seiten eine konzentrierte Auseinandersetzung mit den Fragen und Antworten. So entsteht ein intensiver Austausch, der in der Regel über den Rahmen des Interviews hinaus bestehen bleibt. So begleitet der Interviewer »seine« Künstler kontinuierlich und weist immer wieder auf ihre Neuigkeiten hin. Gelegentlich kommt es auch zu weiteren Kooperationen über den virtuellen Rahmen hinaus, etwa in Form gemeinsamer Publikationen oder Ausstellungen. Von Seiten der Künstler wird gerade die Möglichkeit, sich schriftlich zu äußern, als Chance geschätzt, sich nicht nur einem interessierten (Fach-)Publikum zu präsentieren, sondern sich auch selbstreflexiv mit der eigenen Arbeit auseinanderzusetzen. Der Leser begegnet den Gedanken in einem direkteren »O-Ton«, als dies durch ein transkribiertes Gespräch der Fall wäre.

Die Auswahl und Kontaktaufnahme zu den zu interviewenden Künstlern erfolgt auf unterschiedliche Weise, durch direkte Kontaktaufnahme ebenso wie durch Anfragen durch die Künstler, aber auch durch Vorstellung durch Galerien oder Kunstwissenschaftler. Die vorgestellten nationalen und internationalen Künstler, unter ihnen ebenso etablierte wie »Newcomer«, beschäftigen sich mit zeitgenössischer Kunst in ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Für ihre Auswahl ist wichtig, dass sie in ihrem Werk eine komplexe theoretische Position verfolgen, vielschichtige Denkansätze entwickeln sowie besondere Ausdrucksformen und Lösungen von hoher handwerklicher Qualität finden. Fundamental ist zudem eine ständige Qualitätsprüfung. Die Datenflut und die Reichweite des Internets, die der Arbeit mit einer Online-Publikation große Möglichkeiten eröffnet, erfordert zugleich wesentlich ein geschultes Auge sowie die sorgfältige Auswahl von Themen.

Nach der positiven Absprache für ein Interview erhalten die Künstler einen Fragenkatalog zum Einstieg, der auf die jeweilige Arbeit zugeschnitten ist. Dabei folgen die Fragen einem grundlegenden Muster, werden aber auf das jeweilige Werk hin abgestimmt. Dies erfordert eine intensive kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk schon im Vorfeld, die sich in ihrer Herangehensweise trotz des modernen Mediums nicht von der klassischen Arbeitsweise unterscheidet. Auf diese Weise verbinden sich Elemente einer strukturierten Befragung mit einer offenen Gestaltung: Es werden ähnliche Themenfelder berührt, diese jedoch stets individualisiert und auf den Interviewten und seine Arbeit hin konkretisiert. Dabei ist es einer der großen Vorteile eines eMail-Interviews, dass es die zeitliche und räumliche Distanz erlaubt, Fragen und Antworten aufeinander abzustimmen und gegebenenfalls nachzufragen. So wird eine besonders reflektierte Vertiefung der Gesprächsgegenstände möglich: Die Künstler können sich im eigenen Zeitrahmen mit den gestellten Fragen auseinandersetzen. Anschließend werden die Antworten bearbeitet, nach Themen strukturiert, Inhalte konkretisiert und durch gezieltes Nachfragen präzisiert. Zudem wird vorsichtig sprachlich glättend eingegriffen. Nach mehreren Überarbeitungsdurchgängen von beiden Seiten werden die Interviews mit einer kurzen Einleitung sowie Bildmaterial veröffentlicht.

Es entsteht eine virtuelle Kommunikation, die zu intensiver Bekanntschaft mit dem jeweiligen künstlerischen Schaffen führt und den Lesern Einblicke in ein künstlerisches Schaffen ermöglicht, wie er sie nicht ohne Weiteres erhält. Die »ungefilterte« Darstellung bietet einen direkteren Kontakt mit den Künstlern und ihrem Werk, als es etwa ein Fachtext darstellen würde und eröffnet so die Chance, den Arbeiten aus einer besonderen Perspektive zu begegnen, die zu weiterer und intensiverer Beschäftigung einlädt. Die Interviews werden zu Basistexten, die die Arbeit mit zeitgenössischen Positionen fördern.

Die Arbeit mit Interviews als Kommunikationsform ermöglicht sowohl den Lesern als auch dem interviewenden Kunstwissenschaftler besondere Begegnungen im Sinne des »Inter-Views«, des »Entre-Vues« – gleichsam intensive Momentaufnahmen, die auf einem fachlich hohen Niveau und in neutraler Weise Einblicke in die Arbeit von zeitgenössischen Künstlern eröffnen. Das Interview erweist sich als eine möglichst direkte Form der Kommunikation zwischen Künstler und Kurator, Kunst und Leser ohne größere interpretatorische Zwischenschritte, wie dies etwa in Monografien geschehen würde. In den Interviews entstehen Künstlerporträts, die nicht nur intensive Einblicke in das künstlerische Schaffen eröffnen, sondern Quellentexte zur weiteren Beschäftigung bietet und Möglichkeiten des Vergleichs erlaubt.

Auf der thematischen Plattform von derartigen Webangeboten zur zeitgenössischen Kunst, wie es auch der von der Autorin initiierte Blog zur Schnittstelle von Kunst und Architektur deconarch.com darstellt, verbinden sich klassische und moderne Medien und Kommunikationsformen, die gegenwärtigen Entwicklungen des WWW für sich nutzbar machen. Die klassische journalistische Kommunikationsform des Interviews wird aktualisiert, die methodischen Forschungsmedien der Kunsthistorik erweitert. Die in virtuelle Kommunikation in einem strukturierten, dabei jedoch offen gehaltenen Fragen-Ablauf ermöglicht sowohl die thematische Vergleichbarkeit unter einer besonderen inhaltlichen Perspektive (hier der Verbindung von Kunst und Architektur) als auch sehr individuelle Begegnungen mit künstlerischen Positionen. Die globale Reichweite und die ständige Verfügbarkeit sowie die einfache Zugänglichkeit der Texte bietet den interessierten Lesern ein permanentes Reservoir an fachlichen Informationen. Sie sind damit nicht zuletzt eine Spielart (nicht nur) des Künstlergesprächs, wie es Hans-Ulrich Obrist in den letzten Jahren für die zeitgenössische Kunst so erfolgreich etabliert hat.