Anlässlich der Ausstellung »Berliner Arbeiten« von Lilo C. Karsten in der Kommunalen Galerie Berlin Hohenzollerndamm vom 11.02. bis 15.04.2018 führten Vládmir Combre de Sena und Harald Etzemüller mit der Kunstwissenschaftlerin Brigitta Amalia Gonser ein Gespräch über das Werk der Künstlerin.

 

 

Harald Etzemüller: Wenn man über das malerische Werk von Lilo C. Karsten der vergangenen fünf Jahre nachdenkt, so ist es unabdingbar, Entwicklungslinien in das Werk vor der Jahrtausendwende zu vergegenwärtigen. Brigitta Amalia, zeige uns doch bitte aus deiner kunstwissenschaftlichen Anschauung einige wesentliche Entwicklungen auf.

Brigitta Amalia Gonser: Lilo C. Karsten arbeitete bis etwa 2000 mit sehr intensiven und farbkräftigen Feldern, die sie einander gegenübersetzte und die dann akzentuiert wurden durch figurative Konturierung. Es entstanden also Kompositionen, die mit gewisser Abstrahierung arbeiten und häufig schwarze dominierende Konturen enthalten. Es ist ein ausgesprochenes malerisches Werk, welches sie bis 2000 geschaffen hatte, und obwohl sie auch mit Collage arbeitete ist das Malerische vorherrschend. In diese malerischen Strukturen wurden grafische Umrisse eingegliedert. Das heißt ein grafisches Element war immer da.

Vládmir Combre de Sena: Geht ihr Fokus damit nicht zusehends stärker auf das rein grafische Werk, wo sie doch neben der Malerei auch ausgesprochene Zeichnungen macht?

BAG: Schon um die Jahrtausendwende fügt Karsten in ihren Zeichnungen malerische Akzente ein, wobei sie ihre graphischen Strukturen nicht auf weiße sondern auf farbige Papiere aufträgt. Sie verwendet dabei Recyclingpapiere unterschiedlicher intensiver Farbigkeit. Größtenteils zeichnete sie damals noch figurativ, dabei ist der Mensch für sie immer ein Element der Beziehung – was auch für ihre Selbst-Porträtierung in ihren frühen fotografischen Body-Studies zutrifft. Schon damals strebte sie eine Abstrahierung der menschlichen Gestalt an, die sie in ihren späteren Arbeiten hin zum gesellschaftlichen Wesen des Menschen weiterführte, um sich dann nach der Jahrtausendwende zugunsten einer offenen freien Figuration weitgehend davon zu lösen. Somit setzt mit ihrer künstlerischen Wesenswandlung von extrovertiert zu introvertiert auch eine zunehmende Spiritualisierung ihres Werkes ein.

HE: Lilo Karsten nennt ihre Arbeiten zwar Zeichnungen, sind sie das aber, wenn Sie sowohl auf Papier wie auf Leinwand mit einem farbintensiven Malgrund arbeitet?

BAG: Das kann man tatsächlich so nicht sagen, denn es ist Malerei. Schon die frühen farbigen Recyclingpapiere waren ebenbürtige Dialogpartner der grafischen Strukturen. Karsten schafft malerische Farbräume, die sie durch Verwendung der altmeisterlichen Eitemperatechnik erzeugt, wobei sie aber nicht abwechselnde Lasuren von Eitempera und Ölfarbe einsetzt, sondern Pigmente direkt in die Eitempera mischt, die sie in mehreren Lasuren aufträgt Damit fehlt zwar die Pastosität der Renaissancemalerei, aber sie erzielt dadurch changierende Stimmungsbilder.

VCS: Diese stimmungsvollen Farbbilder könnten doch auch alleine existieren ohne die grafische Strukturen?

BAG: Ja, aber bei den Arbeiten dieses Katalogs sind es zumeist Farbflächen in Pastelltönen, die zwischen Smaragd über Zinnober bis Gold variieren, auf die Karsten mit Ölkreiden ihre offenen grafischen Strukturen in freier Figuration aufträgt. Aus Schraffuren entstehen Energiefelder, die an Gesetzmäßigkeiten des Magnetismus erinnern. Wie die Eisenspäne auf einem Magnetfeld verteilt sind und sich je nach Verlagerung des Energiefeldes anders gruppieren, entwickeln sich aus der grafischen Struktur sehr offene assoziative Figurationen. Besonders malerisch wirken jene Kompositionen, bei denen sie für ihre grafischen Strukturen statt dunkler sehr helle Ölkreidefarben einsetzt, weil die wie Lichtzeichnungen wirken.

HE: Das verleiht ihrer Malerei eine originelle Aura.

BAG: Die spannungsvolle Spiritualität dieser neuen malerischen Arbeiten ist von Transzendenz gekennzeichnet. Diese Arbeiten entstehen aus großer Kontemplation, aus Ruhe und Ausgeglichenheit. Das feine Liniengespinst wird variiert von Bild zu Bild – aber erst aus dem ganzen Kontext der Serie kann man die Mannigfaltigkeit dieser Arbeiten nachvollziehen.

HE: Dadurch dass Lilo diese hellen Ölkreiden für ihre grafischen Strukturen verwendet, wirken diese als aufgesetzte Lichtpunkte, die transzendentale Stimmungen evozieren.

VCS: Es gibt in diesen Arbeiten jedoch immer auch noch Bezüge zu einer Landschaftlichkeit, schließlich hatte sie auf ihren zahlreichen Reisen viel Pleinair gezeichnet – mit schwarzer Ölkreide auf mit Eitempera und Pigmenten behandelten Papieren.

BAG: Tatsächlich gibt es diesen Werken eine Freiheit und diese ätherische Leichtigkeit, wenn die grafische Ebene fast wie ein Nebelgebilde oder wie eine oszillierende Klanglichkeit mit der Farbebene fusioniert.

HE: Dieser Schritt ins Malerische wird sehr konsequent herausgearbeitet, weil eben schon die farbigen Flächen im Bild miteinander in einen Dialog treten, und dabei das Grafische sehr zurückgenommen und eigentlich auch ins Malerische in die Fläche übergeht. In meinen Augen ist Lilo Karsten also nach der aufgezeigten Entwicklungslinie dieses Werks eine echte Symbiose aus Farbe und zeichnerischem Element gelungen. So gesehen steht dieser letzte Schritt nicht unbedingt in einer Kontinuität der bisherigen Entwicklung, sondern vollzieht eine deutliche Wandlung.

VCS: Die Fotografie setzt Lilo seit ihrer frühen Jugend als Spiegel ihres Selbst ein, als Korrektiv und Selbstvergewisserung. In extremer Nähe und expliziter Nacktheit porträtierte sie immer wieder sich, ihre Familie und nahe Freunde.

BAG: Nun, da befand sie sich auf ihrem Selbstfindungstrip, das hat sie mit vielen Künstler*innen gemeinsam, bleibt aber gewissermaßen epigonal.

VCS: Ja, das hat inhaltlich mit ihrer DDR-Geschichte zu tun, damals in den achtziger Jahren, wo sie ein Jahr buchstäblich auf gepackten Koffern gelebt hatte und gewartet hatte, um endlich ausreisen zu dürfen. Ich sehe auch dieses damalige Werk schon eindeutig biografisch angelegt – und sehr authentisch. Damals sicherlich sehr extrovertiert, hat sie über die Jahrzehnte eine Wandlung vollzogen und ist nun eine leise Lilo geworden.

HE: Einigen ihrer Arbeiten ist auch eine sehr persönliche »Heiligkeit« inne, die sich auch in den zahlreichen Künstlerbüchern wiederfindet, die sie gestaltet hat oder auch in ihren kleinen »Reisealtären«. Erstaunlicherweise – oder auch nicht – ist den Werken, über die jetzt diese Veröffentlichung geht, meiner Ansicht nach etwas Abschiedartiges eigen. Das hat auch viel mit Konzentration zu tun.

BAG: Ja sicherlich, es ist eine sehr kontemplative Haltung, in der sie diese Arbeiten geschaffen hat.

HE: Lilo Karsten hatte ja bereits sehr früh ein eigenes ästhetisches und bildkünstlerisches Vokabular entwickelt. Diese authentische Originalität ihres Werks erhält auch mit der beschriebenen Wandlung im Duktus eine Kontinuität, die wir hier nachvollziehen können.

 

Lilo C. Karsten
1956 geboren in Wermsdorf/Sachsen – 1972-75 Karl-Marx-Universität Leipzig, Physiotherapieausbildung – 1974-79 Malunterricht bei Christine Engels – 1978 erste Studienreise nach Kiew – 1979-82 Studium an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale – 1982-84 freie künstlerische Arbeit in Leipzig – 1984 Übersiedlung nach Westdeutschland – 1989 Aufnahme in den Berufsverband Bildender Künstler in München – 1992-93 einjähriger Aufenthalt in Berlin – Ausstellungsvorbereitung für Galerie Weißer Elephant – Teilnahme an »Pochoir in Berlin« Schablonengraffitiarbeit im öffentlichen Raum – Juli 1993 Wiederaufnahme der Arbeit in Haimhausen bei München – 2001 Umzug in das Atelierhaus Villa Stockmann Dachau – seit Herbst 2007 wieder in Berlin wohnhaft – ab 1994 Reisen und Arbeitsaufenthalte in Polen, Spanien, Holland, Schweden, Brasilien und China – seit 1.7.2020 Mitglied im Kunstverein EULENGASSE