»Innerhalb« Carla Orthen; Abb. © Hans-Jürgen Herrmann

Innerhalb – Zum Phänomen Produzentenraum

Vielfalt, Popularität und Prekarität

Selbstorganisierte Kunsträume boomen – nicht nur in Deutschland. Kein Tag vergeht, an dem nicht Neue gegründet werden, während sich Andere schon wieder auflösen. Aktuell gibt es weit über Tausend bundesweit. Mit hoher Wachstumsrate, Fluktuation und immer globalerem Netzwerk erreichen sie zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Zugleich agieren die meisten von ihnen auf einem Low- oder No-Budget-Niveau und investieren mehr Zeit und Geld als sie erwirtschaften oder durch Fördermittel abdecken können. Ihr unverkennbares Markenzeichen: Eine Ambivalenz aus Vielfalt, Popularität und Prekarität.

Das Angebot an Räumen und Programmen ist überwältigend: Wohnzimmerausstellungen, zwischengenutzte Industriebrachen, Vitrinen im öffentlichen Raum, Ateliergemeinschaften mit Ausstellungsareal, umfunktionierte Toilettenanlagen, Hinterhöfe, White Cubes und Ladenlokale. Ihre Organisationsstrukturen? Nicht weniger nuancenreich: lose Gruppen, Künstlerpaare, gemeinnützige Vereine, Gesellschaften bürgerlichen Rechts – staatlich subventionierte, gesponserte oder eigenfinanzierte Initiativen. Gegründet und betrieben von Künstlern, Kuratoren, Kulturmanagern, Grafikern, Sozialarbeitern, Architekten. Dass sich Teamkonstellationen mit der Zeit verändern und verschiedene Nutzungen und Strukturen durchlaufen, macht die Verwirrung komplett.

Projektraum, Off Raum, Non-Profit Raum, Artist Run Space, Produzentengalerie. Die Terminologien wuchern wild und wechseln je nach Standort, Szene, Absender und Adressaten.Die Hamburger Szenekennerin Nora Sdun (Galerie Dorothea Schlüter, ehem. Trottoir) diagnostiziert hinter diesen »Benamsungen« auch eine gewisse Portion Eigendünkel, will man doch einzigartig sein und sich jeder Kategorisierung entziehen.1 Vor Allem aber erfordern Erwartungshaltungen und Begriffsstutzigkeiten von außen eine flexible adressatengerechte Vermittlung des eigenen Tätigkeitsfeldes. Will man Fördergelder, ist man gemeinnütziger Verein – bevorzugt man die unternehmerische Variante, eher eine Produzentengalerie im GbR-Format. Mischformen kombinieren beides miteinander. Die Produzentengalerie Hamburg z.B. verschafft sich als Kommanditgesellschaft (Galerie), gemeinnütziger Verein (Raum für Kunst) und GmbH (Beratungsgesellschaft) finanziell wie inhaltlich maximalen Spielraum und ist längst ein Big Player im Kunstbetrieb. Rechtsformfreie Gruppen wiederum verweigern sich jeglicher Förderung oder halten sich die Quellen vorerst offen.

So oder so ist man auf jeden Fall: unabhängig. Weitere Attribute der selbstorganisierten Kunstszene: alternativ, kollektiv, vernetzt, interdisziplinär, projektförmig, anti-institutionell, nicht-kommerziell, experimentell, subkulturell, hybrid, temporär, jung, (noch) nicht etabliert. Ich nenne sie erst einmal Produzentenräume. Weil mir die Unterscheidung zwischen kommerziell und nichtkommerziell, on hier und off dort, widerstrebt. Sie taugt nicht für einen zeitgemäßen Vergleich, weil viele heute alles zugleich praktizieren: Selbstreflexion, Intervention, Diskussion, Messepräsenz und – ja auch: Verkauf. Stattdessen konzentriere ich mich lieber auf ihre kleinsten gemeinsamen Nenner: 1. die Kunst- bzw. Kulturproduzenten. 2. den Raum – adressierbar, temporär, öffentlich oder virtuell. Attribute wie off, alternativ, unabhängig und artist-run sind damit erleichternderweise eliminiert.

»Innerhalb« Carla Orthen; Abb. © CaBri

Flashbacks und Déjà-vus
Die Geschichte der Kunst ist weitaus weniger eine lineare Abfolge einzelner Künstlergenies als eine netzwerkförmige Matrix selbstorganisierter Kollektivformen. Nach der Entbindung aus der Handwerkszunft hin zur künstlerischen Profession und Selbstbestimmung wird der Künstler spätestens seit dem 19. Jahrhundert zum Solitär. Er bezahlt seinen Freiheitsgewinn mit einem Zuwachs an sozialer Labilität, einer Verschärfung der Konkurrenz und einem anwachsenden Rekurs auf sich selbst.2 Reaktionen darauf: Do-ityourself-Teambildungen.

1809: Aus Unzufriedenheit mit den erstarrten Ausbildungsriten schließen sich sechs Wiener Kunstakademie-Studenten zur St. Lukas-Bruderschaft zusammen. Sie sind patriotisch, religiös und romantisch, schwärmenfür Raffael und Dürer. Mit ihrem Anführer Friedrich Overbeck ziehen sie nach Rom in ein Kloster, um sich im mönchischen Gemeinschaftsleben ganz ihrer Kunst zu widmen und weitere Mitstreiter zu gewinnen. Der Wandel von der Kleingruppe zum Netzwerk birgt auch hier schon die Gefahr von Differenz, Konturverlust und führt schließlich zur Auflösung. Die Nazarener als erste moderne Künstlergemeinschaft: Beinhart rückwärtsgewandt und doch avantgardistisch.In der Folgezeit suchen unzählige Künstlerkolonien (Barbizon, Worpswede & Co) mit Stadtflucht und Pleinair die Synthese von Kunst, Natur und Leben.

1855: Nachdem die Jury der Pariser Weltausstellung drei von vierzehn seiner Bilder ablehnt, errichtet Gustave Courbet mit Hilfe eines befreundeten Förderers den Pavillon du Réalisme und gründet damit einen der ersten temporären artist-run spaces mit einer Solo-Show, in der er neben den offiziell gezeigten vierzig weitere Werke präsentiert. Cleverer Marktstratege und zugleich Verteidiger selbstorganisierter Autonomie: Bourdieu-Sensible wie Isabelle Graw entdecken bereits hier Symbol- und Marktwert in strategischer Eintracht.3

Flächenbrand im Zeitraffer: Mit dem Salon des Refusés, Salons des Independants und europaweiten Secessionen folgen Unmengen an Vorläufern heutiger Satellitenmessen im Format künstlerischer Selbstorganisation. Die hier Aktiven etablieren sich mit der Zeit, positionieren sich in Jurys, Kunsthandel und Sammlungen, um ihrerseits zur Reibungsfläche der Nachfolgegenerationen zu werden. Nach der Jahrhundertwende: Futuristen, Dadaisten, Surrealisten. Die Avantgarde-Bewegungen formieren sich noch radikaler als geschlossene Gruppen mit konturiertem Programm und vor allem: Manifesten!

Zeitsprung 1957: Die Situationistische Internationale, eine links-aktivistische Initiative aus Künstlern und Intellektuellen, breitet ihr Netzwerk über Europa aus. Vietnam- und Algerienkrieg geraten ebenso ins Kreuzfeuer wie Kunstmarkt, Moderne Mythen, Mode- und Medienspektakel. Ihre konsumkritischen Waffen: Kommunikationsguerilla, Détournement und Cultural Jamming. Ab 1968 entstehen im Zuge der Neuen sozialen Bewegungen unzählige künstlerische Initiativen und Selbstorganisationsmodelle, die die gängigen Praktiken im Kunstsystem aufsprengen. Moderne Mythologien (männlicher Geniekult, Einzelautorschaft, Eurozentrismus) geraten ins Wanken, neue Slogans sind Dezentralisierung, Partizipation, Emanzipation und Vernetzung. Alles scheint möglich.

In Berlin gründen sich mit die zinke und Großgörschen 35 die ersten sogenannten Selbsthilfegalerien, die dem erlahmten Kunsthandel frischen Input geben und sich rückblickend für viele (Lüpertz, Hödicke, Koberling) als Sprungbrett für Weltkarrieren erweisen. In den Siebzigern werden aus Selbsthilfe- Produzentengalerien und Dieter Hacker proklamiert: »Tötet euren Galeristen, Kollegen! Gründet eure eigene Galerie«.4 Hilka Nordhausen öffnet in Hamburg mit der Buchhandlung Welt die Tore für kritische Kunst und Textproduktion. Auch Harald Szeemann versucht sich an institutionsfernen Orten wie der eigenen Wohnung in Bern (Großvater, ein Pionier wie wir, 1974). In der DDR treffen sich Künstlerkollektive heimlich privat oder in Kirchen, produzieren Zeitschriften im Eigenverlag – betreiben im wahrsten Sinne Subkultur, fernab vom staatlichen Kulturbetrieb. Nicht wenige Projekte der Achtziger und Neunziger Jahre genießen heute unter Insidern Legendenstatus und verführen zum lautmalerischem Name-Dropping: BüroBert, CopyShop, Hobbypop, Frischmacherinnen, allgirls, Galerie Fruchtig und Akademie Isotrop. Obrist lädt 1991 zur World Soup in seine Küche ein, Biesenbach 1992 in 37 Räume der Auguststraße. Kuratoren und Künstler tauschen Rollen, finden Nischen und improvisieren was das Zeug hält. Und wer hätte das gedacht: Auch die Züricher Shedhalle startet 1980 als Offspace.

Déjà-vus in den Nuller Jahren: Seit den Nazarenern haben unzählige Initiativen weltweit bewiesen, dass sich Co-Working oft mehr lohnt als das Abstrampeln als Einzelner. Auch wenn es die Balance zwischen Individuum und Kollektiv immer neu auszutarieren gilt und viele Gefüge nicht lange Bestand haben, schließt das Nachhaltigkeiten nicht aus – im Gegenteil. Auch die künstlerischen Auseinandersetzungen von damals setzen sich – natürlich in neuen kontextgebundenen Gewändern – bis heute fort: Die .berführung von Kunst ins Leben wird das Thema des 20. Jahrhunderts, etwa – Verkürzungen seien erlaubt – beim Bauhaus, in Warhols Factory oder der Fluxus- Bewegung. Der Proklamationsgestus ehemaliger Manifeste findet sich heute in den Mission Statements (Über uns) auf Webseiten wieder. Der damals utopische Fortschritts- und Reformglaube klingt hier weitaus pragmatischer, aber auch selbstreflektierter.

Situationistische Praktiken mutieren zu legendären Vorbildern für Kunstpraktiken und Marketingstrategien: Von der New Yorker Künstlerinnengruppe Guerilla Girls, über die umweltaktionistische Guerilla Gardenings bis hin zu Flash Mobs bei Burger King. Guy Debords urbanes Umherschweifen hinterlässt Spuren in öffentlichen Raumprojekten (Park Fiction) und Trendsportarten (Le Parkour). Damals wie heute sind Mythos, Anspruch und Realität nicht immer deckungsgleich. Mal mehr mal weniger reflektiert, sind die Situationisten noch heute die meist zitierte Referenz bei Produzentenraumbetreibern. Sicher auch, weil sie schon früh ganz ohne Twitter und Facebook das internationale und interdisziplinäre Networken praktizierten. Das Ausstellen in Alltagsräumen institutionalisiert sich in der Berlin Biennale 2006. Das Modell Produzentengalerie erfährt in Berlin bei LIGA, DISKUS und REKORD ein sehr erfolgreiches in den Medien gehyptes Revival. Unzählige Nachahmer lassen den Standort Brunnenstrasse jahrelang pulsieren.

Based in Berlin 2011: An Klaus Wowereits heiß debattierter »Leistungsschau« nehmen auch die Projekträume Autocenter (mit Gastkurator) und After the Butcher (mit eingeladenen Künstlergruppen) teil. Biennale Venedig 2011: Kuratorin des Schweizer Beitrags für das Teatro Fondamenta Nuovo ist die Künstlern Andrea Thal, die auch Programmverantwortliche des Züricher Produzentenraums Les Complices ist. Bei den Dänen findet sich ein Beitrag von Thomas Kilpper, Mitbegründer von After the Butcher.

So einiges Vergangene wirkt politisch radikaler als heute. Man denke an die selbstorganisierte Messe 2ok in Köln 1996, die das Sponsoring von Siemens in Höhe von 40.000 DM letztendlich aus Autonomiegründen ablehnte.5 Der Rückblick beweist aber auch, dass sich Subversion und Etablierung, symbolischer und ökonomischer Erfolg nicht zwingend ausschließen, sondern oftmals sogar gegenseitig beflügeln. Viele ehemalige Offspaces sind heute weltweit anerkannte Institutionen, viele Underground-Künstler rangieren inzwischen an der Spitze der globalen Rankings.

»Innerhalb« Carla Orthen; Abb. © Harald Etzemüller
Anders anders sein
Mit all dem kunsthistorischem Erbe im Rücken und dem heutigen Anything Goes auf den Schultern sind Reichweiten und Selbstreflexionen ins Unermessliche gestiegen. Bestes Beispiel – der Off-Diskurs: Offspace im Sinne eines abgelegenen Ortes ist eine Wortschöpfung aus dem deutschsprachigen Raum der 1980er Jahre. Vermutlich eine Referenz zum New Yorker Theater der 1960er, das sich je nach Standort und Budgetgröße in Broadway, Off-Broadway und Off Off-Broadway unterteilte.6 Brigitte Kölle bezieht sich lieber auf die Filmtheorie, die mit Off-Screen das meint, was man hören, aber nicht sehen kann.7 Auf jeden Fall geht es um das Randständige, das sich außerhalb der offiziellen Aufmerksamkeiten abspielt. Heute scheint alles genau anders herum zu sein: Off ist in. Alle damit einhergehenden Leitbilder wurden im Zuge des Neoliberalismus vielfach instrumentalisiert, durchgenudelt, ausgelutscht, verdaut und wieder ausgespuckt. Die Reflexionen darüber vervielfältigen sich spätestens seit Boltanskis/Chiapellos »Der neue Geist des Kapitalismus«8 disziplinübergreifend unter Geisteswissenschaftlern (Kunstsoziologie, Cultural Studies), den Alltagsmedien und natürlich – in der Kunstpraxis selbst. Produzentenräume kooperieren inzwischen vielseitig mit Kunst- und Ausbildungsinstitutionen in Form von Ausstellungen, Diskussionsrunden und Symposien: Other possible Worlds (NGBK Berlin), No soul for sale (x initiative New York, Tate Modern London), Istanbul Off Spaces (Kunstraum Kreuzberg/Bethanien), Armella Show (Kunsthaus Erfurt), Work to do! (Shedhalle Zürich).

Immer häufiger erscheinen sie auch auf Kunstmessen oder beteiligen sich bereitwillig an der Best-Of-Offspaces Serie des (ehemals so geschmähten) art Magazins.9 Längst haben auch Kreativwirtschaft und Kulturpolitik die »jungen Experimentellen« als imagefördernden Standortfaktor für sich entdeckt, lobpreisen ihr »attraktives Trend-Image« und betreiben mit dem Off-Label eifriges Stadtmarketing. Am liebsten in Form von Festivals wie subvision Hamburg, vierwändekunst Düsseldorf oder ON OFF München, die die selbstorganisierte Szene immer wieder in Gegner und Befürworter splitten. Die Frage, ob und in welcher Form man heutzutage eigentlich noch »off« d.h. widerständig, subversiv sein kann oder will, wird zum Glück immer wieder neu gestellt. Eins steht fest: Die paradoxe neoliberale Anrufung »Be creative!« lässt sich längst nicht mehr mit den polemischen Dichotomien off-on, kommerziellnichtkommerziell, frei-unfrei, gut-böse abhandeln.10 In Zeiten radikaler Privatisierung und Kulturhaushaltskürzungen teilen Produzentenräume mit Museen, Kunstvereinen und Non-Profit-Organisationen das gleiche Schicksal. Sponsoren können dabei ebenso befreien oder einschränken wie das ständige Zurechtfrisieren von Förderanträgen und Buhlen um die gleichen mickrigen Töpfe.

Entscheidend ist, dass Produzentenräume mit ihren experimentellen Kunstproduktionen und Arbeitsweisen enorm zur kulturellen Vielfalt einer Stadt und Region beitragen. Kritisches Potential praktizieren sie nicht kategorisch, sondern taktisch, zeitweise und situativ als ein »anders anders sein«.11

Dass sie dabei in Kauf nehmen, »kein Geld zu verdienen, frierend zu arbeiten und immer wieder plötzlich umziehen zu müssen« (O-Ton art online!), geschieht dabei weitaus weniger freiwillig und bohémehaft, als so manch schmissige Headline oder Selbstmythologisierung vermuten lassen. Gerade weil sich der Mehrwert von Selbstorganisationen eben nicht mit rein ökonomischen Verwertungslogiken berechnen lässt, sind sie umso mehr auf finanzielle Ressourcen und Raumverfügbarkeiten angewiesen. Zunehmend selbstbewusst und professionell verhandeln ihre Betreiber unter sich, mit Interessensverbänden und Politikern über Freiräume und zeitgemäße Kulturförderung: Die Hamburger Initiative »Wir sind woanders«, die Düsseldorfer »Freiräume für Bewegung«, die Schweizer Plattform »Off Off« und nicht zuletzt das »Berliner Netzwerk freier Projekträume und -initiativen«.12

Fußnoten, Quellenangaben

1 Nora Sdun: Artist run. In: The Thing Hamburg 2006. thinghamburg.de
2 Hans-Peter Thurn: Die Sozialität der Solitären. Gruppen und Netzwerke in der Bildenden Kunst«, in: Kunstforum International Bd. 116 1997, S. 100-129.
3 Graw, Isabelle: Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Kultur. Köln 2009, S. 39. Pierre Bourdieu: Das symbolische Kapital. In: Ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987, S. 216f.
4 Hacker, Dieter: Die Kunst muss dem Bürger im Nacken sitzen wie der Löwe dem Gaul. 7. Produzentengalerie 1971-1981; Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1981.
5 Alice Creischer; Dierk Schmidt; Andreas Siekmann (Hg.): Messe 2 ok. Köln 1996.