Michael Rieth © Harald Etzemüller

Die Schwelle vom Animalischen zum Humanen war lang, breit und diffus; sie lässt sich nicht dingfest machen. Sprache und Werkzeuggebrauch etwa, einschließlich des gezielten Herstellens von kruden Werkzeugen (wie das Formen von Wurfgeschossen zum Vertreiben von Raubtieren oder das Schälen und Anspitzen von Stöckchen zum Herauspieksen von Maden oder Würmern aus Baumstümpfen) sind auch von Primaten bekannt.

Über tierisches Denkvermögen – bis hin zu Reflexionen der Themen von Sein oder Nichtsein – vermögen wir keine Aussage treffen; Doch kein Tier beherrscht das Feuer, und kein Tier stellt Kunstwerke her. Man könnte sich also zur Behauptung versteigen, der Koch und der Künstler (beides natürlich auch mit der Endsilbe -in) stünden für die wesentlichen Eckpunkte der Menschwerdung, denn nur sie hätten besagte Schwelle vom Animalischen zum Humanen überschritten. Lassen wir hier einmal Betrachtungen über die menschliche Koch-Kunst außer Acht, verzichten auf Überlegungen zur Differenz zwischen instinkthaftem und bewusst teleologischem Handeln bei Tieren, und beschränken wir uns auf die frühesten eindeutigen Nachweise menschlichen Schaffens: auf die ersten Kunstwerke.

Günther Smolla hat sich in seinen »Epochen der menschlichen Frühzeit« ausführlich mit den »Problemen der Holzzeit« auseinandergesetzt, die im Wesentlichen in der Vergänglichkeit des Werkstoffes bestehen; Doch gibt es auf knöchernen Geräten bereits vor etwa 70.000 Jahren Verzierungen, denen wir Beschwörungscharakter zuschreiben. Da solche Verzierungen besonders häufig auf Jagd- oder Kriegswaffen zu finden sind, müssen wir gerade ihnen genau diesen magischen Zweck zuschreiben, zumal auch in geschichtlicher Zeit stets ein großer Waffenkult getrieben wurde: Denken wir nur hundert Jahre zurück, als am Vorabend des ersten durchindustrialisierten Krieges auf deutscher Seite Priester das Aspergill schwangen, um die Kanonen mit Weihwasser zu segnen, auf dass die Ernte gut ausfiele, während auf französischer Seite die Priester der selben Religionsgemeinschaft das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen taten. Doch diente das Verzieren, Dekorieren, Beschwören von Waffen und Geräten einem direkten Zweck, war ausschließlich mit dem entsprechenden Werkstück verbunden, griff jedoch nicht in dessen Funktionen ein. Wenn auch zunächst die Beschwörung durch ein Abbild noch eine eindeutig kultische Funktion innehatte, so kann man doch in ihrer Entwicklung von einer Profanisierung sprechen: Unter Abschwächung des auratischen Elements tendierten die künstlerischen Arbeiten zum Dekor; Das Kunsthandwerk war entstanden.

(mündl. Exkurs über Scheinindividualisierung normierter Utensilien bis hin zu den Plüschtierchen auf Broker-Arbeitsplätzen!)

Michael Rieth © Harald Etzemüller

Die ältesten uns bekannten, wahrhaft monumentalen, Kunstwerke sind die Höhlenmalereien, die nicht nur ein treffendes Abbild der natürlichen Vorlage darstellen, sondern durch das reine Abbilden hindurchsteigen zu einer tieferen Wahrheit, die uns jeden Stier als den »Stier-an-sich« erscheinen lässt, jedes Pferd als das Eidos Pferd und jede Kuh als die Urmutter aller Kühe. Picasso soll nach einer Besichtigung der Höhle von Lascaux gesagt haben: »Wir haben nichts Neues gelernt.« Die ältesten dieser Fresken entstanden um 40.000 v.u.Z., sie befinden sich ausschließlich in hinteren Höhlenteilen ohne Tageslicht, und es ist offensichtlich, dass sie mit ihrem auratischen Charakter kultische Handlungen stützten, die vermutlich der Beschwörung (etwa von Jagdglück) dienten.

(mündl. Exkurs: Kult, Totenkult etc)

Lange blieb die Kunst dem Licht der Öffentlichkeit verborgen. Auch nach dem Entstehen fester oberirdischer Bauwerke – zu deren ersten sicherlich Tempel gehörten – blieb die Kunst dem Kult vorbehalten, und nur langsam, zögerlich, wanderten zunächst geometrische Muster, die häufig der Botanik entlehnt waren, in den Eingangsbereich der Tempel, dann folgten Statuetten, die die Säulen und Friese eroberten. Doch alles, was nun einen Tempel (oder Palast) auch äußerlich kennzeichnete, diente nur dem Gesamtzweck, gehörte unabdingbar zum Bauwerk und wäre seines Sinnes entkleidet worden, hätte man es an einen anderen Ort verbracht.

(mündlicher Exkurs zu mobilen Statuetten: Penaten, Laren – Alba Longa versus Roma – Prozessionen etc.)

In der Antike säkularisierte sich das Fürstentum zunehmend vom Kultisch-Religiösen. Waren die Pharaonen selbst noch Götter, so führten die griechischen Fürsten allenfalls ihre Abstammung auf Götter zurück, und die mittelalterlichen Könige und Kaiser gerierten sich als Menschen – allerdings als ganz besondere: als solche nämlich, denen das Herrschaftsprivileg als Gottesgnadentum zugefallen war.

(mündl. Exkurs: Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV lehnt 1849 Ernennung zum Erbkaiser durch das Parlament ab. Er will Gottesgnadentum, zumal dieser parlamentarischen Ernennung der »Ludergeruch der Revolution« anhaftet.)

Doch in dem Maße, in dem Herrschende nun keine direkten Götter mehr sind, sondern lediglich deren Abkommen, wandern ihre Statuen in den profanen Bereich: die Agora, das Forum, die Piazza della Signoria. Die Bilder bleiben weitgehend im Inneren – und sie bleiben immobil; handelt es sich doch nach wie vor im Wesentlichen um Fresken. (Wir reden hier nicht von Miniaturen, Erinnerungsstücken oder Votivgaben, die man eher dem privaten Gebrauch zuordnen muss.)

Das Ende des Freskos kommt mit dem Ende der Romanik, die man gut als die letzte klerikale Kunstepoche bezeichnen kann. Die Entwicklung der architektonischen Möglichkeiten in der feudal geprägten Gotik ließ die Wände als Malgrund schrumpfen bis zum Verschwinden. Es begann die Zeit der Tafelbilder, die sich zwar von der stützenden Wand emanzipiert hatten, doch aufgrund ihrer Sperrigkeit und ihres Gewichts meist vor Ort belassen wurden. Doch ist klar ein Zuwachs an Mobilität zu verzeichnen: Wenn die Päpste im Sommer dem Seuchensumpf Roms den Rücken kehrten, um sich ins gesündere Gebirge zurückzuziehen, nahmen sie nun ihre Lieblingsaltäre mit. Es mussten Wahnsinnsumzüge gewesen sein, doch erstmals konnten so die »Heiligen« gemeinsam mit dem »Heiligen Vater« reisen.

Doch Tempora mutantur, nix bleibt, wie es ist, und während die gotischen Säulen in den Himmel wuchsen, lösten sich die ihr synonymen Herrschaftsverhältnisse von der Basis, die von andere Kräften eingenommen wurde. Die gotischen Kathedralen lagen in den Städten, sie wurden von den Bürgern genutzt und neu bestimmt: In Notre Dame de Paris wurden neben Gottesdiensten auch Ratsversammlungen abgehalten, und die Florentinische Verfassung der 90er-Jahre des 14. Jahrhunderts verbot ausdrücklich die Beteiligung das Adels an der Regierung.

(mündl. Exkurs: Peter Parler am Nordeingang des Veitsdoms; Anton Pilgrim als Kanzelträger im Stefansdom)

Das Bürgertum lebt vom bzw. mit dem Handel, der so sehr im Vordergrund steht, dass das eigentliche Handelsgut zur Nebensache wird. Lebte der Feudaladel noch vom Fixen Kapital seiner Ländereien, so zeigte sich während der bürgerlichen Epoche der Renaissance die Überlegenheit des mobileren Geldes, das sich durch die Entwicklung des modernen Bankensystems in Italien zum Kapital mauserte und somit noch mobiler wurde. Zur wesentlichen, nahezu revolutionären Neuerung in der Malerei entwickelte sich die Leinwand. Eine Leinwand kann man vom Rahmen lösen, zusammenrollen und problemlos verschicken. Nun waren es nicht mehr die Künstler, die um einen Auftrag auszuführen, zum Ort des Auftraggebers reisten, sondern das Kunstwerk selbst reiste – nachdem es in der Werkstatt des Künstlers fertiggestellt worden war. Damit war das Kunstwerk erstmalig zum Versandgut geworden.

Doch die kaufmännisch-bürgerliche Entwicklung blieb auch nicht ohne Auswirkungen auf die Produktionsweisen: Zu Stars unter den Künstlern wurden solche, denen es gelang, ihre überschaubare Werkstatt zu einer ausgewachsenen Manufaktur zu entwickeln. Dürer war ein Beispiel für einen Geschäftsmann, der in seinem Betrieb kaum noch selbst Hand anlegen musste, sondern Dutzende von fest bezahlten Spezialisten angestellt hielt, die unter anderem seine »Greatest Hits«, wie den putzig mümmelnden Hasen oder die verhärmt betenden Hände dutzendweise kopierten – und an die zahlende Kundschaft versandten.

(mgl. mündl. Exkurs: Rubens und die Äpfel)

Zum Abschluss noch eine kurze Betrachtung nicht über handwerkliche, sondern über technische Reproduzierbarkeit – ohne, dass wir hier Walter Benjamin zitieren wollen: Bereits der Holzschnitt ermöglichte im 15. Jahrhundert die erste graphische Massenproduktion für fast alle Bevölkerungsschichten, und etablierte sich endgültig als Handelsgut. Wert, Umsatz, Präsenz von Handelsgütern lässt sich am besten an Messen feststellen. Was liegt also näher, als hier, von der Offenbach-Frankfurter TAUSCH-Messe einen Blick über den Main und ein halbes Jahrtausend zurückzuwerfen: Die Bilddrucker und Briefmaler, so ist den Messe-Annalen zu entnehmen, hatten ihre Stände bereits im 14. und frühen 15. Jahrhundert direkt im Dom oder in seiner unmittelbaren Nähe. Bereits 1505 und 1506 legte zum Beispiel Agnes Dürer die Werke ihres Mannes auf der Frankfurter Messe zum Verkauf vor. Das Interesse an fremden Künstlern (bei denen man immerhin ja etwas bestellen konnte) führte eine illustre Gesellschaft zusammen. So trafen sich dort im frühen 16. Jahrhundert so bedeutende Künstler wie Matthias Grünewald, Hans Backoffen, Hans Holbein d.Ä., Albrecht Dürer, Hans Baldung, gen. Grien und Jörg Ratgeb.

Auch hier und heute treffen sich Künstler und Künstlerinnen. Von welchen man in fünf Jahrhunderten noch reden, und mit wessen Werken man dann noch handeln wird, überlassen wir getrost einer hoffnungsfrohen Zukunft. ./.