Polyversum

Das Jahresthema 2013. Ein wissenschaftlihcer Erklärungsversuch.

Das POLYVERSUM bezeichnet das Universum im Kopf jedes Einzelnen, genauer im Körper jedes Einzelnen. Es meint nicht das Multiversum in der Physik und auch nicht die Parallel-Universen aus der Science Fiction Literatur.

Was das UNIVERSUM ist, meinen wir ausreichend zu wissen. Also ein irgendwie zusammengewürfelter Haufen aus ungefähr 100 Mrd. Galaxien mit jeweils etwa 
100 Mrd. Sternen und das ganze ziemlich genau 13,789 Mrd. Jahre alt. 

Wir sind alle Teil dieses Universums und schauen es uns aus Sicht unserer vergleichsweise bescheiden kleinen Erdkugel an. Na ja, wir 7 Mrd. Menschen leben ja nur innerhalb einer 10 km dünnen Schicht um den Erdball herum. Und wenn wir in einer sehr klaren Nacht zum Himmel empor schauen, könnten wir maximal 2000 Sterne zählen.

Das heißt, selbst wenn wir schon weit gereist sind, haben wir vergleichsweise wenig vom eigentlichen Universum mitbekommen. Unser Leben währt im Schnitt gerade mal 2,52 Mrd. Sekunden, also bei weitem nicht genug, um jedem Erdenbürger die Hand zu schütteln. Auch wenn ich jedem von den 2000 Frankfurterinnen und Frankfurtern, die pro Tag Geburtstag haben, persönlich gratulieren wollte, hätte ich einiges zu tun.

Ich möchte aber erstmal ganz klein anfangen:
Die Zelle war der erste durchschlagende Erfolg in der Natur, der zur Entwicklung der so genannten höheren Lebewesen führte. Ihre Grundidee ist, zwischen Innen und Außen zu differenzieren. Die äußere Hülle ist die Membran, die in der Lage ist, Gutes von Schlechtem zu unterscheiden. Die guten Stoffe werden von außen aufgenommen, die schlechten abgewiesen, und der Abfall wird ausgeschieden.

Der Vorteil der Zelle im Vergleich zur leblosen Umgebung ist, dass sie autonom agieren kann. Sie kann also entscheiden, was sie mit all den schönen und unschönen chemischen Verbindungen, Elementen und Gasen anfängt. 
Sie kann sich bewegen, vermehren und damit ihre Idee weiterentwickeln.

Der offensichtliche Nachteil ist die Trennung vom Kosmos. Die Zelle ist zwar Bestandteil des Universums, kümmert sich aber im Wesentlichen nur um ihr Inneres und sieht die Welt hauptsächlich als Rohstofflieferanten. 

Wenn viele Zellen zusammen kommen, nennt man das einen Mehrzeller. Hierbei sind die jetzt spezialisierten Zellen nicht mehr ganz so autonom. Sie sind Teil eines Verbands, der beim Menschen aus 10 bis 100 Billionen Zellen besteht. Davon sind 100 Mrd. Nervenzellen und davon (nur!) etwa 20 Mrd. Gehirnzellen. 

Die Forschung sagt aber, dass nicht die Zahl der Zellen entscheidend ist, sondern die Verknüpfungen zwischen den Zellen. Jede neu erlangte Information baut neue Verknüpfungen auf und vernichtet andere oder gibt sie in die Ablage. Wenn man mit etwa 1000 solcher Verbindungen von jeder Zelle zu den anderen Gehirnzellen rechnet, dann kommt man auf 20 Billionen mögliche analoge Informationseinheiten. Das ist zwar sehr viel, aber noch lange nicht genug, um die Welt einigermaßen vollständig abzubilden.
Aus der Informationstheorie ist nämlich bekannt, dass zu einer vollständigen Simulation des Universums mindestens genau so viele Informationseinheiten, sprich Atome, benötigt würden wie für das Universum selbst. Aber über Redundanzanalyse und Datenreduktion wäre da noch etwas Platz. Und unser Gehirn ist der Weltmeister an Datenreduktion.

Wir, die wir denken, das Gehirn sei für unser ICH das Wichtigste, müssen uns vor Augen halten, dass von der Zahl der Zellen her unser Gehirn bei weitem in der Minderheit ist. Die meisten Prozesse in unserem Körper spielen sich ab, ohne dass unser Bewusstsein überhaupt etwas davon mitbekommt. Wir sind nur froh, dass das alles automatisch so gut funktioniert. Das ist die Maschine, die unser Leben schafft und aufrecht erhält. Und zwar nicht nur ohne besonderes Zutun unsererseits – wir wissen noch nicht einmal genau, wie sie funktioniert und wir wissen nur ganz vage, wie man sie richtig bedient. 

Dabei ist unser Körper nicht so fest gefügt, wie wir es uns im Allgemeinen vorstellen. Alle Teile des Körpers befinden sich in einem ständigen Austausch mit der Welt. 
Die Welt, und dabei vor allem das Wasser, aber auch die Luft, fließen ständig durch uns hindurch. Der Wasserkreislauf auf der Erde ist so intensiv und umfassend, dass, wenn ich ein Glas Wasser ausschütte, und nach 10 Jahren irgendwo auf der Erde ein Glas Wasser schöpfe, in diesem Glas bestimmt mindestens ein Wassermolekül aus dem ursprünglichen Glas vorhanden sein wird. 

Mit jedem Atemzug atme ich eine Luft ein, die nicht nur bereits in Millionen von Menschen, sondern die auch schon Teil von unzähligen anderen Lebewesen war. Es wäre gar nicht so falsch, uns den Körper wie einen Fluss vorzustellen, der ja auch immer der gleiche ist, aber nie aus den selben Wassermolekülen besteht. Jeden Tag werden etwa eine Million Zellen in meinem Körper ausgetauscht. Ich bin also in meinem Inneren ein Teil des Kosmos, ohne dies besonders wahrzunehmen.
 
Was wissen wir eigentlich von der Welt? Wir haben zunächst die Sinnesorgane. Wenn ich am Morgen die Augen aufmache, trifft mich mit einem Schlag eine Informationsflut von geschätzt 50 000 Informationseinheiten. Und das einzige davon, was mich interessiert, ist der Blick zum Wecker. Was, schon 7:30 Uhr? Also von der Wirklichkeit bekomme ich auf diese Weise nicht viel mit.
Es gab mal eine Zeit, als man sagte „Ich glaube nur das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe“. Inzwischen glaubt man eher das, was einem mit der eigenen Medienumgebung eingestreut wird. Und man kann diese Dinge nur glauben oder nicht. Die meisten Informationen werden dabei über Sprache vermittelt. Und das bewegte Bild dient hier sozusagen als Beweisführung, um die Aussage glaubhafter zu machen.

Wobei ich immer auch eine Vorstellung von Dingen habe, die ich nicht glaube. 
Wenn ich sage, ich glaube nicht an Gott, dann habe ich sofort eine Idee von einem Gott. Das heißt, er existiert in meiner Vorstellung. Es gibt natürlich auch Dinge, die sich leichter verifizieren lassen. Wenn ich sage, ich glaube nicht, dass es draußen regnet, habe ich ebenfalls eine Vorstellung von der regennassen Straße. Ich kann aber sofort hinaus schauen und es überprüfen.
Aber ich kann niemals etwas glauben oder nicht glauben, von dem ich gar keine Vorstellung habe. Denn mit dem Wissen ist es etwas so: es gibt sehr viele Dinge, von denen ich nicht einmal prinzipiell weiß, dass sie existieren. Sie bleiben meinem Universum völlig verborgen. Und das sind mit Abstand die meisten Dinge. 

Während ich so in den Tag hinein lebe, treffe ich mal ein paar Menschen, erledige einige Dinge und erfreue mich am Alltäglichen. Während dieser Zeit ist die Welt nicht stehen geblieben. Millionen von Lebewesen sind gestorben oder geboren worden, haben Freude oder Leid erfahren oder auch nur den ganzen Tag den Bildschirm angestarrt. Von alldem weiß ich nichts. Die Eintagsfliege, die einen grauen Regentag erlebt, denkt am Ende bestimmt: „Scheißwelt“. Aber wenn sie Glück hatte, konnte sie einen Partner finden und ihre Idee von einer besseren Welt weiter tragen.

Besonders interessant an unserem eigenen persönlichen Universum ist, dass es uns ein Gefühl von Vollständigkeit gibt. Wir meinen, das Wesentliche von der Welt zu wissen, es fehlt vielleicht nur ein Bisschen. Das Unermessliche des äußeren Universums ist für uns gerade mal etwas größer als bis zum Horizont. In unserer Vorstellung enthält dieses Universum fast alles. Das vermeintlich Unwichtige wird ausgeblendet und ist für unser Universum somit nicht existent. Denn das, was wir nicht kennen, existiert für uns nicht.

Unser Gehirn erzeugt aus all den Informationen, die schließlich doch zu uns gelangen, eine umfangreiche, glaubhafte, in sich konsistente Simulation, die unser inneres Universum darstellt. Jeder der 7 Mrd. Menschen baut sich eine eigene Simulation. Mehr noch, jedes Tier, jede Pflanze, jeder Pilz und überhaupt jede autonome Zelle simuliert das Universum, jeweils mehr oder minder ausgeprägt und spezialisiert. 

Jede dieser Universum-Simulationen beansprucht ihre eigene Wahrheit, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, sondern an die jeweils eigenen Bedürfnisse angepasst ist. Für mich ist eine Katze etwas ganz anderes als für einen Katzenfreund, und der Kater hat der Katze gegenüber auch eine völlig andere Vorstellung, der Floh und die Maus ja sowieso. 

Die wirkliche Welt ist etwas vollkommen anderes als unsere Simulation und darf auf keinen Fall gleich gesetzt oder verwechselt werden. Für unsere Simulation gibt es diese wirkliche Welt genau genommen gar nicht. Denn wir können sie weder sehen, noch fühlen, noch riechen. Wir sehen zwar etwas, und das möglicherweise auch sehr detailliert. Aber das, was wir dabei wahrnehmen, unterscheidet sich in einem solchen Ausmaß von der Wirklichkeit, dass wir uns diesen Gedanken kaum vorstellen wollen.

Unsere Sinne sind darauf trainiert, die äußere Welt, genau es bei der einzelnen Zelle der Fall ist, auf Nutzen und Gefahren hin zu analysieren. Wenn ich eine rote Tomate in der Hand halte, überlege ich mir, ob sie reif ist. Ob sie schon faul ist, ob sie gar giftig ist, ob es mir gut tut, sie zu essen. Dabei ist mir egal, dass diese Frucht in Wirklichkeit ein sehr komplexer Organismus ist. Von der Natur dazu erdacht, das Überleben einer bestimmten Idee zu sichern.
Die Tomate besteht aus Millionen von Zellen, die wiederum aus Millionen von chemischen Verbindungen und Molekülen bestehen und diese wiederum sind aus Tausenden von Atomen zusammengesetzt. Und diese Atome sind nicht etwa kleine Kügelchen, die brav um einen Atomkern kreisen. Sondern es handelt sich um theoretisch punktförmige Quarks, die in gewissen, sehr präzise definierten, aber dennoch zufälligen Wahrscheinlichkeitsorbitalen herumsausen. 

Und da es in der Natur nichts Punktförmiges geben darf, könnten diese wiederum aus viel kleineren so genannten Strings aufgebaut sein. Diese wären nicht nur so klein, dass wir sie selbst mit unserem besten Vergrößerungsglas (also mit dem Protonenbeschleuniger CERN) nicht auflösen können. Nein, die mathematische Theorie verankert die Strings auch noch in sechs weiteren, für uns unzugänglichen und auch unvorstellbaren Raumdimensionen.
 
Die Farbe rot, die mein Auge erreicht, besteht aus einem für die Idee des Überlebens ganz unwichtigen Lichtwellenspektrum. Mein Auge nimmt dieses auf und gibt die Information über elektrische und chemische Impulse an das Gehirn weiter, das diese über mindestens zehn auf das Visuelle spezialisierte Verarbeitungsstufen auswertet, mit der Datenbank abgleicht, eine Vorstellung formt, und am Ende, also nach etwa 10 Millisekunden entscheidet: ESSBAR!

Daraus ergibt sich aber auch: Die Farbe ROT ist für jeden Menschen und überhaupt für jedes Lebewesen etwas völlig anderes. Wenn ich einem anderen Menschen erklären soll, wie die Farbe ROT aussieht, halte ich einfach eine Tomate hin, deute darauf und sage: „Das ist rot!“. Damit habe ich zwar eine Kommunikationsgrundlage geschaffen, aber die andere Person sieht in ihrem Universum tatsächlich etwas ganz anderes. Denn die Farbe ist in jedem Gehirn anders codiert. Das muss so sein, denn es gibt Milliarden unterschiedlicher Möglichkeiten, diese Farbe in der Vorstellung zu verankern. 

Wir haben uns in unserem persönlichen Universum eingerichtet, sind mit unserem sogenannten Schicksal mehr oder minder zufrieden. Wir empfinden eine seltsame Traurigkeit der Tatsache gegenüber, dass wir vom äußeren Universum weitgehend getrennt existieren. Und nicht nur vom äußeren Universum, sondern auch von all den anderen Universen um uns herum, dem POLYVERSUM. Wir klammern uns an die wenigen Momente, die uns Einblick in ein anderes Universum gewähren. 

Das Leid unserer Isolation ist, dass wir NIEMALS wissen können, wie die Farbe rot in dem Universum eines anderen Menschen genau aussieht. Und all die anderen Dinge natürlich auch nicht. Die Sprache, die einfach den Begriff „rot“ definiert, so als wäre das schon die Erklärung, ist ein völlig unzureichender Minimalkonsens. Die Sprache bildet nicht die Welt ab, sondern verschleiert sie sogar, indem sie lächerliche Allgemeinplätze, also Worte, an Stelle der Wirklichkeit setzt. 

Wir vermuten dennoch, dass dieses andere Universum grundsätzlich ähnlich aussieht wie unseres. Und wir besitzen ein gewisses Einfühlungsvermögen, das uns in begrenztem Umfang in die Lage versetzt, uns in ein anderes Universum einzufühlen.
Inzwischen gibt es wissenschaftliche Beweise für etwas, was wir intuitiv sowieso schon lange wissen und auch schon oft erlebt haben: Es ist möglich, direkte Verbindungen zwischen den getrennten Universen zu schaffen. Musik ist eine dieser Methoden. Wenn Musiker zusammen spielen, gehen sie eine intensive Verbindung ein. Sie bilden nach außen einen Organismus, der sehr komplexe Klangereignisse schafft, die im Millisekundenbereich aufeinander abgestimmt sind. Das überträgt sich wiederum auf die Zuhörer, die so einen gemeinsamen Kosmos erleben können.

Von solchen Schnittstellen gibt es sehr viele Beispiele, denn das Bedürfnis sowohl nach Äußerung, als auch nach Aufnahme ist über die reine Lebenserhaltung hinaus sehr groß. Und da wir uns jetzt hier in einer Kunstgalerie befinden, ist der natürliche Gedanke, dass die Ausübung von Kunst unsere Bemühung darstellt, anderen diesen Einblick zu schenken. 

Oder zu verkaufen, aber das wäre wieder ein ganz anderes Thema. 



Carolyn Krüger, 19.4.2013
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